Nils Sander

Nils Sander

Extrem hohe Wellen galten lange als Seemannsgarn.

Seeleute berichteten schon immer von Begegnungen mit einem Kaventsmann. Menschen an Land sagen dazu auch Monsterwelle. Heute weiß man: Extremwellen oder Riesenwellen existieren. Sie können bis zu drei Mal höher werden als die umgebende See.

Gefährliche Begegnungen mit ihnen haben die Seenotretter der Deutschen Gesellschaft zur Rettung Schiffbrüchiger (DGzRS) mehrfach am eigenen Leib erfahren – teilweise mit tragischem Ausgang. Hier schildern sie ihre Erlebnisse. Fachleute aus der Wissenschaft erklären zudem, was extreme Wellen sind, wie sie entstehen, wie hoch sie wirklich werden können und ob sie sich künftig vorhersagen lassen.

Es ist der Abend des 20. August 1990. Über die deutsche Küste zieht ein schweres Unwetter, Böen bis zu Windstärke 12 aus West-Nordwest peitschen die Nordsee auf. Dann kommt die Funkmeldung: Zwei Segler sind nördlich Wangerooge mit ihrer Yacht in Seenot geraten. Die Seenotretter der Station Wilhelmshaven laufen sofort aus. Mit dem Seenotrettungskreuzer VORMANN STEFFENS kämpfen sie sich durch fünf bis acht Meter hohen Seegang. Sie finden den Havaristen und nehmen ihn in Schlepp. Was sich hier so einfach liest, erfordert unter den gegebenen Umständen sehr gute Seemannschaft, große Umsicht und Erfahrung. Anschließend nehmen die Seenotretter mit der Segelyacht im Schlepp wieder Kurs auf die Jade.

Im unteren Fahrstand der VORMANN STEFFENS plottet Seenotretter Dieter Steffens die Position auf der Seekarte mit. Anschließend öffnet er das achtere Schott, tritt aus dem Aufbau heraus und erklimmt an Steuerbord die Treppe zum oberen, offenen Fahrstand. Plötzlich taucht die Bedrohung aus der Schwärze der Nacht auf. Steffens erinnert sich: „Da kam ich die Treppe hoch und hörte nur etwas rauschen. Ich denk: ‚was ist das?‘ Und dann guckte ich nur. Ich sah eine weiße Wand… Das war eine riesen weiße Wand.“

Dieter Steffens schätzt, dass er über die gut 10,5 Meter hohe VORMANN STEFFENS noch weitere sieben bis acht Meter hochblicken muss, um den Kamm der Welle zu sehen, die auf den Seenotrettungskreuzer zurauscht. „So eine Monsterwelle war das. Es war eine Grundsee, die sich da aufgebaut hatte“, sagt er. „Da habe ich nur noch zu den anderen drei gebrüllt da oben: ‚Haltet Euch fest! Da kommt gewaltig was an!‘“

Was ist eine Grundsee?

Eine Grundsee bezeichnet nicht zwangsläufig einen Kaventsmann oder eine Extremwelle. Vielmehr ist sie – wie der Name es schon verrät – dadurch charakterisiert, dass ihr Wellental bis fast auf den Grund reicht und diesen aufwirbelt. Grundseen können bei Stürmen in relativ flachen Küstengewässern entstehen, wenn die Wassertiefe geringer ist als die halbe Wellenlänge. Sie werden extrem steil und brechen in der Regel.

Gerät ein Schiff in eine Grundsee, kann es querschlagen und kentern. Sogar eine Grundberührung ist nicht ausgeschlossen. Entsteht eine Extremwelle in seichtem Wasser, kann sie zugleich die Eigenschaften einer Grundsee haben.

Mit voller Wucht trifft die Quersee den Seenotrettungskreuzer, wirft ihn 110 Grad auf die Seite und presst ihn in die tosende Nordsee. Backbords werden die Fenster von Kombüse und Waschraum eingedrückt, die Reling verbogen. Als das Schiff sich – wie baulich vorgesehen – von selbst wieder aufrichtet, ist Dieter Steffens nicht mehr an Bord.

Aus seiner Erfahrung als Seenotretter weiß er, wie gering seine Chancen sind. Doch wie durch ein Wunder überlebt er eine Dreiviertelstunde in dem 16 Grad kalten Wasser – bis ihn die Seenotretter des Seenotrettungskreuzers OTTO SCHÜLKE rufen hören und er schließlich von einem Hubschrauber in ein Krankenhaus geflogen wird. 

Hier die ganze Geschichte um Seenotretter Dieter Steffens erfahren.

Die Nacht des Wunders

Eine Monsterwelle reißt den Seenotretter Dieter Steffens von Bord seines Kreuzers. Kann ihn jemand in der Dunkelheit finden?

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Archivfoto: National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA)
Archivfoto: National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA)

(1) Februar 1993: Mehrere Extremwellen treffen im Golf von Alaska quer auf das 272,5 Meter lange Tankschiff "Overseas Chicago". (2) Tankschiff läuft in der französischen Biskaya auf Extremwelle zu. Aufnahme wahrscheinlich zwischen 1940 und 1975. 

Monsterwellen werden erst seit 1995 intensiv erforscht

Zum Zeitpunkt des Unglücks gibt es aus wissenschaftlicher Perspektive nur Indizien, die auf die Existenz von extrem hohen Wellen hindeuten: Augenzeugenberichte, unscharfe Bilder und bis dato unerklärliche Schiffsunglücke. Der erste unerschütterliche Nachweis wird noch etwa viereinhalb Jahre auf sich warten lassen – bis zum Sonntag, 1. Januar 1995:

In Südschweden formt sich ein Tief mit enormem Druckgradient. Der daraus resultierende Sturm fegt in südlicher Richtung über die Nordsee und wird immer schneller. In den späteren Morgenstunden erreicht er Orkanstärke. 

Rund 86 Seemeilen (etwa 160 Kilometer) südwestlich der Südspitze Norwegens – also im Zentrum der Nordsee – befindet sich die Ölbohrplattform Draupner E. Sie ist wenige Monate zuvor in Betrieb genommen worden und verfügt über mehrere für ihre Zeit moderne Messinstrumente zur Ermittlung der Wellenhöhe. Am Mittag erreicht die an der Plattform gemessene signifikante Wellenhöhe rund zwölf Meter und verbleibt auf diesem Niveau bis in die frühen Abendstunden.
 

Was ist die signifikante Wellenhöhe?

Die signifikante Wellenhöhe ist ein Durchschnittswert. In einer festgelegten Zeitspanne – typischerweise 20 Minuten – wird die Höhe jeder Welle gemessen, als der Abstand von Wellental zu Wellenkamm. Das Besondere: Nur aus einem Drittel aller Wellen wird der Durchschnitt berechnet – nämlich aus den höchsten der gemessenen Wellen. Das hat auch historische Gründe, da die mittlere Wellenhöhe aus typischen Bordbeobachtungen – also visuell erfasst – in etwa der signifikanten Wellenhöhe entspricht.

Kurz gesagt: Die signifikante Wellenhöhe ist der Mittelwert aus dem höchsten Drittel aller gemessenen Wellen. 

Um kurz nach 16 Uhr mitteleuropäischer Zeit schlagen alle Messinstrumente auf Draupner E aus: Inmitten der relativ gleichmäßigen Messkurven sprengt eine einzelne Welle den Rahmen. Sie erreicht 25,6 Meter – mehr als die doppelte signifikante Wellenhöhe.

Schäden an der Plattform auf entsprechender Höhe räumen auch die letzten Zweifel aus. Fortan wird diese Monsterwelle als Draupner-Welle bekannt. 

Die Messkurve der Draupner-Welle vom 1. Januar 1995 auf der Ölbohrplattform Draupner E in der zentralen Nordsee. Um 16 Uhr mitteleuropäischer Zeit begann die Messung. Die Höhen sind nicht von Wellental zu -Kamm erfasst, sondern vom mittlerem Meeresspiegel zum Wellenkamm. Grafik: Ingvald Straume

Was ist eine Monsterwelle?

„In unserem Sprachgebrauch sind Monsterwellen einfach Wellen, die auffällig höher sind als die umgebenden Wellen“, erklärt Ina Teutsch, Wissenschaftlerin der Abteilung Küstenklima und regionale Meeresspiegelveränderungen am Helmholtz-Zentrum Hereon in Geesthacht. Sie müssen mehr als doppelt so hoch sein, wie die signifikante Wellenhöhe – je nach Definition entweder 2,0- oder 2,2-mal so hoch.

„Das heißt, die sind so hoch, dass sie ganz selten oder überhaupt nicht zu erwarten gewesen wären. Und das ist das gefährliche daran“, sagt Ina Teutsch. Hinzu kommt: Monsterwellen kennzeichnen sich durch eine extreme Steilheit.

Foto: Karsten Petersen (global-mariner.dk)

Wie hoch Wellen werden können: Im Nordpazifik gerät die "Stolt Surf" 1977 in einen starken Hurrikan. Am 20. Oktober tobt die See und diese "Monsterwelle" türmt sich vor dem Tankschiff immer weiter auf. Um den Wellenkamm zu erblicken, muss die Besatzung aus der 22 Meter hohen Brücke immer noch nach oben schauen. Die See reißt Stahlschotte aus den Angeln, biegt zentimeterdicke Decksaufbauten wie Grashalme. Doch die "Stolt Surf" und seine Crew überstehen den Sturm und können eine Woche später den Hafen anlaufen.

Kaventsmann, Riesenwelle, Freak Wave, Monsterwelle – was ist der richtige Begriff extrem hoher Wellen?

„Darf man alles sagen“, erklärt Ina Teutsch mit einem Lächeln. Fachleute aus Wissenschaft und Forschung nutzen meist den Begriff Extremwellen. Unter Seeleuten ist Kaventsmann geläufiger, abgeleitet vom lateinischen Wort cavere, sich in Acht nehmen. Im Englischen haben sich die Begriffe Freak Wave (wörtlich übersetzt: Verrücktenwelle) und Rogue Wave (wörtlich übersetzt: Schurkenwelle) durchgesetzt. 

War eine Extremwelle verantwortlich für das Unglück des Seenotrettungskreuzers ALFRIED KRUPP?

Der Orkan am Neujahrstag 1995 setzt seinen Weg unvermindert nach Süden fort. Mit bis zu 100 Kilometern pro Stunde türmt er die sieben Grad kalte See weiterhin zu gewaltigen Wellenbergen mit schäumenden Kämmen auf. Und er nähert sich den West- und Ostfriesischen Inseln. 

Dort, an der Grenze zwischen Deutschland und den Niederlanden, wird sich in den Abendstunden des 1. Januar eines der schwersten Unglücke in der Geschichte der DGzRS ereignen: der schwere Unfall der ALFRIED KRUPP.
 

Der Seenotrettungskreuzer ALFRIED KRUPP, vor dem Unglück am 1. Januar 1995.

Um 19.40 Uhr empfängt der auf Borkum stationierte Seenotrettungskreuzer einen Seenotruf: Bei einem Rettungseinsatz der niederländischen Seenotretter aus Lauwersoog ist ein Rettungsmann über Bord gestürzt. Die Borkumer Seenotretter um Vormann Bernhard Gruben legen umgehend ab, um sich an der Suche nach dem Kollegen der DGzRS-Schwestergesellschaft Koninklijke Nederlandse Redding Maatschappij (KNRM) zu beteiligen.

Um kurz nach 22 Uhr heißt es zunächst: aufatmen. Der niederländische Seenotretter ist gesichtet und von einem Hubschrauber gerettet worden – er hatte ähnlich großes Glück wie fünf Jahre zuvor Dieter Steffens. Die ALFRIED KRUPP kehrt um. Es ist 22.14 Uhr, als der Seenotrettungskreuzer westlich von Borkum in eine gewaltige Grundsee gerät. Der Verdacht liegt nahe, dass es sich auch hierbei um eine Extremwelle handelt.

Seenotretter Theo Fischer und Bernhard Gruben (✝)

Sie wirft die ALFRIED KRUPP um, die sich aber – wie konstruktionsbedingt vorgesehen – anschließend von selbst wieder aufrichtet. Vormann Bernhard Gruben (53) aus Neuharlingersiel hat das Manöver im oberen Fahrstand schwer verletzt überstanden. Die Rettungsmänner Diederich Vehn und Bernhard Runde sind ebenfalls verletzt. Doch Maschinist Theo Fischer (51) aus Ditzum fehlt. Er ist über Bord gestürzt.

Die ALFRIED KRUPP ist stark beschädigt und manövrierunfähig. Nachdem die Rettungsleute einen Notruf abgesetzt haben, versucht die Besatzung eines Such- und Rettungshubschraubers der Marine, sie vom Vorschiff der ALFRIED KRUPP abzubergen. Doch den Seenotrettern gelingt es wegen der starken Schiffsbewegungen nicht, das rettende Seil mit der Schlinge zu greifen. Gruben schickt seine Männer zurück ins sichere Deckshaus. In dem Augenblick bricht eine weitere Sturzsee über dem Seenotrettungskreuzer zusammen und reißt auch den Vormann von Bord. 

Die Besatzung des Norderneyer Seenotrettungskreuzers OTTO SCHÜLKE gelingt es kurze Zeit später, die ALFRIED KRUPP auf den Haken zu nehmen und nach Eemshaven zu schleppen. Drei Tage lang suchen mehrere DGzRS-Einheiten und andere Schiffe nach den beiden vermissten Seenotrettern – vergeblich. Bernhard Grubens Leiche wird Ende Februar am Strand von Juist, die des Maschinisten Theo Fischer Mitte August nördlich von Borkum geborgen. 

Wie entsteht eine Extremwelle?

Nach diesen Ereignissen beschäftigen sich weltweit immer mehr Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler mit der Erforschung der Extremwellen. Im Fokus steht die Frage: wie können Gebiete ausfindig gemacht werden, in denen sie besonders häufig vorkommen? Und wäre es sogar möglich, sie vorherzusagen, um Seeleute zu warnen?

Um dies zu beantworten, müssen die Fachleute zunächst verstehen, wie und warum sich Riesenwellen bilden. „Man glaubt, dass es ganz unterschiedliche Gründe dafür gibt“, sagt Ina Teutsch. „Ein Grund ist einfach die Addition von Wellen, die aus verschiedenen Richtungen kommen und unterschiedlich hoch sind. Man kann sich das ja gut vorstellen: Stapelt man mehrere solcher Wellenkämme aufeinander, kommt dabei eine richtig hohe Welle heraus.“

Wie eine Extremwelle im Labor erzeugt wird

Dies lässt sich im Labor nachstellen. Das zugrundeliegende Prinzip: Je länger eine Welle ist – also der Abstand von einem Wellental zum nächsten Wellental –, desto schneller bewegt sie sich. In einem künstlichen Wellenkanal kann eine extrem hohe Welle erzeugt werden, indem man mehrere Wellen immer größerer Länge in vorher berechneten Abständen hintereinander losschickt. Die längeren Wellen holen aufgrund ihrer höheren Geschwindigkeit die kürzeren Wellen ein. Huckepackmodell wird dieses Prinzip auch genannt.

An einem bestimmten Punkt vereinen sich alle Wellen schließlich zur Extremwelle. Doch diese bricht sehr schnell, und die Einzelwellen divergieren wieder auseinander.

YouTube-Video: "Großer Wellenkanal: Eine Monsterwelle entsteht | GWK in Hannover"
(Minute 3:18)

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Anders verhält es sich, wenn die Wellen nicht nur aus einer Richtung kommen, sondern aus zweien – auf See spricht man dann von einer Kreuzsee. Treffen die Wellen in einem flachen Winkel aufeinander, lässt sich in einem runden Versuchsbassin eine Extremwelle erzeugen, die in ihrer Gestalt und Größe (verhältnismäßig im Maßstab) der Draupner-Welle sehr nahekommt. Die Wellen kreuzten sich hier in einem Winkel von 120 Grad.
 

YouTube-Video: "Freak wave created in lab mirrors Hokusai’s ‘Great Wave’"
(Monsterwelle durch Kreuzsee-Experiment erzeugt)

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Strömungen begünstigen Extremwellen. Vor der Südspitze Südafrikas beispielsweise treffen von starken Westwinden entfachte Wellen auf den gegenläufigen Agulhasstrom.

„Das kann man sich so vorstellen, dass diese Strömung die Wellen ein bisschen zusammendrückt“, erläutert Ina Teutsch. „Die Energie muss irgendwohin. Sie geht in die Höhe, das heißt: Diese Wellen werden höher und steiler. Die Wahrscheinlichkeit dafür, dass Extremwellen entstehen, ist dadurch dort relativ groß.“ Zudem beeinflusst die Beschaffenheit des Meeresbodens nah der Küste die Entstehungswahrscheinlichkeit großer Wellen und auch extremer Wellen. 

Ist ein Tsunami eine Monsterwelle?

Nein, nach Definition der Forscherinnen und Forscher nicht. Denn Tsunamis entstehen anders: Nicht Wind im Zusammenspiel mit anderen Wellen erzeugt sie, sondern Ereignisse ruckartiger Wasserverdrängung sind ursächlich. „Tsunamis entstehen durch Erdbeben, durch Plattenanhebung unter Wasser oder auch einstürzende Gesteinsmengen in den Ozean“, erläutert Dr. Jochen Horstmann, Leiter der Abteilung Oberflächendynamik der Ozeane am Helmholtz-Zentrum Hereon. In Ausnahmefällen kommen auch Meteoriteneinschläge als Ursache in Frage. 

Tsunamis unterscheiden sich in weiteren wesentlichen Punkten von normalen Wellen, zunächst durch die Wellenlänge. Auf dem offenen Meer können sie mehrere hundert Kilometer lang werden. „Und dadurch, dass sie so lang sind, bewegen sie sich auch sehr, sehr schnell“, sagt Horstmann. „Sie können sich pro Stunde mehr als 800 Kilometer weit ausbreiten“, weiß der Wissenschaftler. 

Zum Vergleich: Eine Windsee, also durch Wind beeinflusste und aufgetürmte Wellen, wird in Stürmen etwa bis zu 150 Meter lang – gemessen am Abstand zweier hintereinander folgender Wellenkämme. Fällt die Windgeschwindigkeit unter die (Phasen-)Geschwindigkeit der Welle, wird die Windsee zur Dünung. Diese weist eine geringere Wellenhöhe auf, dafür ist sie länger: Schätzungsweise bis zu 500 Meter sind möglich – in Extremfällen bis zu 700 Meter. Ihre Ausbreitungsgeschwindigkeit ist stark begrenzt. Bei einer Wellenlänge von 700 Metern können schnelle Wellen einer Dünung etwa 120 Kilometer pro Stunde erreichen. 

Der Wellenberg eines Tsunamis erreicht auf offener See lediglich einige Dutzend Zentimeter Höhe. Die Gefahr beginnt bei Erreichen des Ufers. Trifft ein Tsunami auf immer flacher werdende Gewässer in Küstennähe, wird er durch den zunehmenden Einfluss des Meeresbodens abgebremst. Doch nun rückt der hundert Kilometer lange Wellenberg mit der Geschwindigkeit eines Passagierflugzeugs auf und türmt sich zu einer gewaltigen Welle, die mit zerstörerischer Kraft weit ins Landesinnere läuft. 

Ina Teutsch (links) ist Wissenschaftlerin der Abteilung Küstenklima und regionale Meeresspiegelveränderungen am Helmholtz-Zentrum Hereon in Geesthacht, Dr. Jochen Horstmann Leiter der Abteilung Oberflächendynamik der Ozeane am Helmholtz-Zentrum Hereon. Mit ihnen haben wir über den Forschungsstand zum Thema Extremwellen gesprochen.

Ihre Antworten auf die Fragen wie und warum Monsterwellen entstehen und wie sich sich möglicherweise vorhersagen lassen, sind nachfolgend auch zum Anhören verfügbar:

Archivfoto: National Oceanic and Atmospheric Administration (NOAA)
Archivfoto: Die Seenotretter – DGzRS

(1) Das Forschungsschiff "Okeanos Explorer" in aufgewühltem Meer mit einer schmalen aber - im Vergleich zur umgebenden See - sehr hohen Welle. (2) Vor Helgoland bauen sich gelegentlich steile Wellen auf, die aus dem Tochterboot VERENA des Seenotrettungskreuzers HERMANN MARWEDE durchaus beeindruckend wirken.

Wie groß ist die größte Riesenwelle?

Das kommt darauf an, sagt die Wissenschaft. Auf die Art der Messung und darauf, welche Größe gefragt ist. „Die höchste signifikante Wellenhöhe liegt bei genau 19 Metern und wurde gemessen im Nordatlantik zwischen Island und Großbritannien“, berichtet Jochen Horstmann. Da es sich hierbei um einen Durchschnittswert handelt, geht er von einer hohen Sicherheit der Daten aus. „Aber bei den extrem hohen Einzelwellen wird oft nur geschätzt, denn jedes Messgerät hat seine Tücken.“ 

So soll der Fastnet-Leuchtturm vor der Südwestküste Irlands 1985 von einer großen Welle mit 48 Metern Höhe getroffen worden sein. Das U.S. Naval Research Laboratory hat mit Drucksensoren am Meeresboden im Jahr 2004 eine 27,7 Meter hohe Welle gemessen. 2001 wurden zwei Kreuzfahrtschiffe von mutmaßlich von über 30 Meter hohen Monsterwellen erfasst – die "Bremen" am 22. Februar im Südatlantik vor Argentinien, die "Caledonian Star" am 2. März in der Drakestraße. Beide Schiffe wurden teilweise stark beschädigt.

Eine Boje vor der Südküste Neufundlands in Kanada maß während des Hurrikans Dorian am 8. September 2019 eine signifikante Wellenhöhe von 12,5 Metern und eine einzelne Welle mit 30,7 Metern Höhe. Dies ist damit die höchste Extremwelle, die mittels Boje gemessen wurde. 

Ein Jahr später, am 17. November 2020, erzeugte ein Sturm im Pazifik vor Vancouver Island (ebenfalls Kanada) eine signifikante Wellenhöhe von 6,1 Meter. Eine sieben Kilometer vor dem Küstenort Ucluelet verankerte Boje wurde plötzlich von einer 17,6 Meter hohen Welle emporgetragen. Das entspricht der fast dreifachen Höhe. Damit brach die Ucluelet-Welle alle bekannten Rekorde als größte Monsterwelle im Verhältnis zum umgebenden Seegang. 

YouTube-Video: "The most extreme rogue wave on record"
(Aufzeichnung der Ucluelet-Welle)

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Den Guinness-Weltrekord für die höchste je gesurfte Welle hält Big-Wave-Surfer Sebastian Steudtner mit 26,2 Metern vor der portugiesischen Stadt Nazaré, die für ihre riesigen Wellen bekannt ist.

Monsterwellen, Mathematik und das Geheimnis von Norderney

Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wie Ina Teutsch speisen die Erkenntnisse aus dem Labor und aus den Daten von Messbojen in mathematische Vorhersagemodelle. Die gängigsten Modelle gehen von linearen Wellen aus.

„Wenn man eine lineare Theorie anwendet, dann nimmt man an: eine von dreitausend Wellen ist eine Extremwelle“

„Eine lineare Welle sieht wie eine Sinuskurve aus. Sie fängt bei null an, dann hat sie einen Wellenberg und dann geht sie wieder runter und hat ein Wellental, das genau so tief ist, wie der Wellenberg hoch war“, sagt Teutsch. 

„Wenn man eine lineare Theorie anwendet, dann nimmt man an: eine von dreitausend Wellen ist eine Extremwelle“, erläutert die Wissenschaftlerin weiter. An der Nordsee würde man nach diesem Modell an einem Tag mit einem Meter signifikanter Wellenhöhe rund dreimal Extremwellen erwarten. Teutsch hat sich die Daten von sechs Messbojen über sechs Jahre angeschaut und kommt zu dem Schluss: „Das passt eigentlich ganz gut zur Theorie linearer Wellen. Deswegen bin ich auch der Meinung, dass man damit die meisten Extremwellen erklären kann.“
 

Doch eine Messstation sticht heraus: Norderney. „Norderney hat einen flachen Strand, und ab einer bestimmten Stelle fällt der Meeresboden steil ab. Genau da sitzt diese Messboje. Und an dieser Messboje haben wir gesehen, dass dort mehr Extremwellen auftreten als an anderen Orten und auch mehr als nach der Theorie erwartet.“ 

Dem ging die Schiffbauingenieurin buchstäblich auf den Grund und glich die Daten mit einem anderen Modell ab: einem nicht-linearen Wellenmodell. Nicht-lineare Wellen sehen nicht aus wie eine Sinuskurve, sondern sind verformt, asymmetrisch, beispielsweise durch ein winziges Wellental bei einem riesigen Wellenberg. „Es gibt eine bestimmte Wellenart, die heißt Soliton“, erklärt Teutsch. „Das sind Wellen, die bestehen eigentlich nur aus einem Wellenberg.“

Seenotrettungskreuzer BERNHARD GRUBEN im Orkan vor Norderney im Dezember 2013. Foto: Frank Kahl

Das Modell passte und hilft nun dabei, die Gefahren extremer Wellen an bestimmten Orten, wie beispielsweise Schifffahrtswegen, einzuschätzen. 

Wie sich Extremwellen vorhersagen lassen

Forscherinnen und Forscher wollen aber noch mehr. Ein Ziel ist es, auch kurzfristig vor Extremwellen zu warnen. Und das könnte mit Radar funktionieren. 

„Die momentane Forschung ist darauf konzentriert, mit marinen Radargeräten Einzelwellen zu messen“, berichtet Dr. Jochen Horstmann, Leiter der Abteilung Oberflächendynamik der Ozeane am Helmholtz-Zentrum Hereon. „Der Traum ist, dass man eine Welle identifiziert und dann eine Kurzfristvorhersage machen kann. Kurzfrist heißt hier: 30 bis 60 Sekunden. Denn 30 Sekunden ist reichlich Zeit, um etwas nicht zu machen.“

Sehr wertvoll sei dies für die Offshore-Windindustrie und beispielsweise die Situation einer Personalübergabe auf See. „Auch bei größeren Schiffen kann man dann noch sein Personal an Deck warnen“, sagt Horstmann. Und damit sicherstellen, dass alle an Bord die Möglichkeit haben, sich in Sicherheit zu bringen.

Die Seenotretter kennen die Gefahr. Und doch fahren sie freiwillig und unter Einsatz des eigenen Lebens raus, um Menschen zu retten. Bei jedem Wetter.
 

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